UTOPIA TALKS

EINE GESPRÄCHSREIHE ÜBER (REALE) UTOPIEN & IMAGINATION AM THALIA THEATER

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WARUM ÜBER UTOPIEN SPRECHEN?

Eine der zentralen Herausforderungen, denen wir im Bemühen um eine gerechtere, friedlichere Gesellschaft gegenüberstehen, ist der Schritt von der Analyse der Gegenwart hin zur Intervention für eine bessere Zukunft. Denn die Analyse und Dekonstruktion der gegenwärtigen Realität kann ihrerseits zu einer Form von Beschränkung und Verhinderung einer alternativen Zukunft werden. So zitierte Ron Suskind, Journalist der NYT, 2004 in einem Artikel einen politischen Berater des damaligen US-Präsidenten George W. Bush mit folgenden Worten:

Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, erschaffen wir unsere eigene Realität. Und während ihr diese Realität analysiert (…), handeln wir erneut, erschaffen andere, neue Realitäten, die ihr dann ebenfalls analysieren könnt. Und so wird es sich ordnen. Wir sind die Handelnden der Geschichte (…), und euch, euch allen, wird nichts übrig bleiben, als zu analysieren, was wir tun. [1]

Seitdem ich in der Recherche für mein Buch »Sprache und Sein« das erste Mal auf dieses Zitat stieß, lässt es mich nicht mehr los. Es reiht sich ein in Gedanken und Selbstkritik wie jene der afro-amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison, die die Funktion von Rassismus als »Ablenkung« benennt [2]. Ich denke, Dekonstruktion und Kritik von gegenwärtigen Verhältnissen sowie der Widerstand dagegen sind eine essentielle Notwendigkeit. Allerdings entfalten sie ihre Wirkung erst in Kombination mit der Konstruktion gerechterer Strukturen, dem Versuch, den Idealen aktiv näherzukommen. Sonst degeneriert unser Bemühen um eine gerechtere Gesellschaft lediglich in eine Bestrafung der Gegenwart – ohne Zukunft.

Wie also kommen wir Idealen oder gar Utopien tatsächlich näher? Wie können wir die Wege dahin ebnen? Wie eine wünschenswerte Zukunft konstruieren? Erarbeiten? Wie werden wir beispielsweise eine Gesellschaft, die rassismuskritisch und geschlechtergerecht wird und irgendwann tatsächlich ist? Wie sieht eine solche Welt aus? Wie fühlt sie sich an? Wie fühlt sich der einzelne Mensch in einer solchen Gesellschaft?

Diesen Fragen widme ich mich in der Recherche für mein nächstes Sachbuch und besuche verschiedenste Menschen, die den Mut aufbringen, widerständig zu denken, zu schreiben – und zu leben. Menschen, die Orte kreieren, an denen ein anderes Leben bereits erprobt wird. »Reale Utopien«, so nennt der Soziologe Erik Olin Wright diese Orte [3]. Wenn soziale und politische Gerechtigkeit tatsächlich unsere Zukunft werden soll, »dann wird sie durch das bewusste Handeln von Menschen herbeizuführen sein, die gemeinsam agieren, um sie zu verwirklichen«, schreibt Wright. Wenn wir uns von dem Gedanken lösen, Ideale müssten überall und auf einmal realisiert werden, können wir uns die Freiheit schaffen, jetzt schon Räume zu öffnen, in denen wir Utopien, so gut es geht, ausprobieren. Wohlwissend, dass dieses Ausprobieren nur bedingt gelingen kann.

Diese Orte, »reale Utopien«, befinden sich an den Grenzen unserer Gesellschaft, den Rändern. Sie sind utopisch, weil sie nicht institutionalisiert und gesellschaftlich etabliert sind, sondern marginalisiert, widerständig, der herrschenden Norm und Konvention widersprechend und infragstellend. Sie sind jedoch zugleich real, weil sie im Jetzt und Hier, unter den gegenwärtigen Bedingungen tatsächlich existieren, erprobt werden, im Kleinen und im Großen. Durch Andeutungen. Durch klares Aussprechen. Durch Bewusstsein. Durch Ahnung. 

So besuchte ich im Sommer 2021 – im Rahmen meines Stipendiums der deutschen Kulturakademie Tarabya in Istanbul – anarchistische Kollektive, antikapitalistische Initiativen, interviewte oppositionelle Denker*innen, Autor*innen, Politiker*innen und Künstler*innen und Umweltorganisationen. So auch beispielsweise die Künstlerin Fatoş İrven (kurdische Schreibweise »İrwen«), die mir im Interview vom Schaffen und Kreieren als Akt der Emanzipation berichtete. Gerade in einer Gesellschaft, einer Umgebung, einem Raum, in der sie für nichtig erklärt worden ist. Als Kurdin. Als widerständige, kritische Denkerin. Als Künstlerin. Als Frau. Als Mensch. 2016 wurde sie – von einem »geheimen Zeugen« beschuldigt, terroristische Propaganda betrieben zu haben – zu drei Jahren Haft verurteilt [4] [5]. Diyarbakır E Tipi Kapalı Cezaevi. Sie beschreibt, wie das Gefängnis bezweckte, ihr das Gefühl von Nichtigkeit zu geben. Und wie sie – eben durch das Gefühl der Nichtigkeit, nicht jedoch als Form von Unterwerfung, sondern als Emanzipation aus den Umständen heraus – anfing zu kreieren. Ausgerechnet im Gefängnis. An einem Ort, an dem der türkische Staat sie mit Gewalt ihrer Autonomie berauben wollte, begann sie das Schaffen aus dem Nichts heraus und holt sich ihre Autonomie zurück. Sammelt akribisch ihre langen Haare. Und die ihrer Mitinsassinnen, die nach und nach beginnen, ihr ihre Haare zu spenden, aus denen sie Kugeln formt. Muster. Geschichten webt. Die Ränder von Tüchern bestickt, beschmückt. Tücher, die sie beschreibt. Insekten. Farbschichten der Gefängnismauern. Sie sammelt, was sie findet. Und gibt den Dingen Bedeutungen, die weit über die Mauern der beengten Räume reichen, in denen sie der Staat versucht zu begrenzen. Sie erprobt: Das Entstehen aus dem Nichts. Das Sein aus dem Nichts heraus.

 [1] Ron Suskind, »Faith, Certainty and the Presidency of George W. Bush«, NY Times Magazine, 17.10.2004, https://www.nytimes.com/2004/10/17/magazine/faith-certainty-and-the-presidency-of-george-w-bush.html   (abgerufen am 25.02.2022). Übersetzt von der Autorin.

[2] »Die Funktion, die ganz ernsthafte Funktion von Rassismus ist Ablenkung. Er hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Er lässt dich immer und immer wieder die Gründe deiner Existenz erklären. Jemand sagt, du hast keine Sprache, und du verbringst zwanzig Jahre damit, zu beweisen, dass du eine Sprache hast. Jemand sagt, dein Kopf hat nicht die richtige Form, also lässt du Wissenschaftler daran arbeiten, die Richtigkeit deiner Kopfform zu belegen. Nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.« Toni Morrison, »A Humanist View«, Portland State University’s Oregon Public Speakers Collection, 1975. (abgerufen am 26.02.2022). Übersetzt von der Autorin link.

[3] Erik Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, übersetzt von Max Henninger, Berlin 2017, S. 492.


[4] Vecdi Erbay, »Ressam Fatoş İrven gizli tanık ifadesiyle hapiste«, Gazete Duvar, 20.09.2017, https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2017/09/20/ressam-fatos-irven-gizli-tanik-ifadesiyle-hapiste  (abgerufen am 25.02.2022).

[5] »BREAKING NEWS! Fatoş İrwen has been released from Turkish prison!«, Artists at Risk, 02.03.2020, https://artistsatrisk.org/2020/03/02/artists-at-risk-ar-campaigns-for-the-release-and-just-treatment-of-fatos-irwen/?lang=en  (abgerufen am 25.02.2022).


"UTOPIA TALKS" IM THALIA THEATER

In der Talk Serie »Utopia Talks« finden seit Januar 2024 Gespräche im Thalia Theater in Hamburg zu Utopien & Imagination, "realen Utopien" mit Beispielen und Diskussionen zu konkreten Umsetzungen statt. Eröffnet wurde die Reihe mit der Transformationsforscherin Maja Göpel zu Transformation und den Rechten der Natur. Darauf folgte ein Abend mit der Autorin Mithu Sanyal über Gerechtigkeitsbewegungen, Kriege und "becoming indigenous" und im Juni fand der 3. Abend mit der Wissenschaftlerin Vanessa Thompson zu Abolitionismus statt. Am 4. Abend erwartet uns die Autorin Teresa Bücker zum Thema Zeitgerechtigkeit.

Jede Gäst*in bringt 3 Orte/Personen/Kollektive mit, die einer “realen Utopie” gleichen und in der Teile der Zukunft, nach denen sie sich sehnen, heute bereits erprobt werden. Diese werden vorgestellt – mit dem Einsatz von Film, Musik, Fotografie, Erzählungen, Lyrik und/oder Schauspiel.

Jeder Abend wird umrahmt durch eine musikalische Live-Begleitung, Gespräche im und mit dem Publikum, sowie Tee & kleinen Snacks.

KONZEPT & MODERATION

Kübra Gümüşay


DRAMATURGISCHE BEGLEITUNG

Julia Lochte, Natalja Starosta

 

RECHERCHE

Helena Sattler


AUSSTATTUNG

Daniel Goergens

GEFÖRDERT DURCH

ABOUT

Kübra Gümüşay ist Autorin des Bestsellers »Sprache & Sein«, sowie zahlreicher preisgekrönter Organisationen und Initiativen. Derzeit ist sie Fellow am The New Institute in Hamburg. Sie erforscht alternative, gerechte Zukünfte, reale Utopien und die Politik der Imaginationen.

Sie ist Autorin des Bestsellers »Sprache & Sein«, Moderatorin der Gesprächsreihe “Utopia Talks” am Thalia Theater in Hamburg, sowie Initiatorin zahlreicher Kampagnen und Vereine – u.a. des feministischen Co-Creation Spaces eeden in Hamburg, das 2019 von der Bundesregierung als »Kultur- und Kreativpiloten« ausgezeichnet wurde, der feministischen Research- und Advocacy-Organisation future_s  oder des feministischen Bündnisses #ausnahmslos, das 2016 mit den Clara Zetkin Frauenpreis ausgezeichnet wurde. Ihr Blog ein-fremdwoerterbuch.com wurde 2011 für den Grimme Online Award nominiert. Das Forbes Magazine zählte sie 2018 zu den Top 30 under 30 in Europa. 2021 war sie Stipendiatin der Deutschen Kulturstiftung Tarabya. 2022/3 war sie als Senior Fellow der Mercator Stiftung am Centre for Research for Research in Arts, Humanities and Social Sciences (CRASSH), am Leverhulme Centre for the Future of Intelligence und als Visiting Fellow am Jesus College an der University of Cambridge. Aktuell ist sie Fellow am The New Institute in Hamburg und befasst sich mit alternativen Zukünften, realen Utopien und die Politik der Imaginationen. Hierzu leitet sie ein künstlerisches Kollektiv "The Imagination Agency", mit denen sie alternative Techniken und Methoden des politischen Imaginierens erprobt.

Für weitere Informationen: Website.